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  • Leitartikel

Aggression


Valentin Jorel | unsplash | Is was … ?

Aggressionen sind eine normale menschliche Verhaltensäußerung. Um sich von fremden und eigenen Aggressionen nicht vom Weg abbringen zu lassen, ist es unerlässlich, angemessen mit ihnen umgehen zu können. Das setzt voraus, sie im Allgemeinen zu verstehen, sie im Alltag richtig einordnen zu können und dann die verschiedenen Reaktionsmuster gezielt und systematisch geübt zu haben.


Inhalt

  • Chance
  • Können wir denn nicht einfach friedlich sein?
  • Spielfelder kultivierter Aggression
  • Die Aggression: drei Annäherungsversuche
  • Übung macht die Meisterin, Übung macht den Meister
  • Schütze das Gleichgewicht
  • Kampfkunst hilft
  • Ventil?
  • Hey Wolf …

Chance

Die Aggression ist ein ständiger Begleiter des Konflikts. Aggression ist mal Begleitumstand, mal Treiber und mal Verhinderer von Lösungen. Sie ist Lösungsverhinderer, wenn eine Seite mit überzogenen Forderungen den Bogen überspannt, um die andere Seite zu reizen und diese dann das Gespräch empört abbricht. Aggression ist ein Treiber von Veränderungen, wenn sich eine Person aufgebracht gegen Benachteiligung wehrt, die der anderen Seite unbeabsichtigt unterlaufen ist, und die folgende Auseinandersetzung zu einer guten Lösung und zu einer Verbesserung der Beziehung führt. Sie ist ein normaler Begleitumstand, wenn eine Konfliktsituation vor lauter Komplexität völlig verfahren ist und es ein reinigendes Gewitter braucht, damit es danach wieder konstruktiv und zielführend weiter geht.

Um Meister (wmd) des Konflikts zu sein, muss man auch Meister der Aggression sein.

Der Wunsch nach Meisterschaft in der Bewältigung von Konflikten macht es erforderlich, die Muster der Aggression zu verstehen und die verschiedenen Spielarten der Reaktion auf sie zu beherrschen. Meisterin oder Meister der Friedfertigkeit und der Sachorientierung kann nur sein, wer das Thema Aggression schonungslos und ohne Emotionen ausleuchtet und zeitlebens die verschiedenen Techniken der Unterdrückung, des Handlings, der Nutzung oder der Auflösung von Aggressionen übt. Die Meisterung von Aggressionen ist eine zentrale Fähigkeit des Konfliktmanagement. Diese Fähigkeit macht den Unterschied.


Können wir denn nicht einfach friedlich sein?

Die Antwort ist eindeutig: ja und nein. Ja, wir können friedlich sein. Moderne Gesellschaften haben beeindruckende Möglichkeiten geschaffen, die Aggression der Menschen so zu kanalisieren, dass die Energie für die Gesellschaft konstruktiv genutzt wird. Man muss nur um sich schauen und sieht Menschen, die in den verschiedensten Situationen ihre Aggressionen und die Aggressionen anderer in souveräner Manier meistern und so zu Sachlichkeit und Problemlösung beitragen.
Die Tatsache, dass Konflikte werden in modernen Gesellschaften statistisch betrachtet weitgehend mit friedlichen Mitteln oder zumindest in Abwesenheit offener körperlicher und psychischer Gewalt gelöst werden, spricht eindeutig für die Fähigkeit, friedlich sein zu können.

Nein, wir können nicht friedlich sein. Die Aggression gehört zum Menschen, wie das Amen in der Kirche. Aggression hat viele Spielarten, sie äußert sich offen oder verdeckt feindselig. Aggression (lateinisch aggredere: heranschreiten; sich nähern; angreifen) ist eine feindselig angreifende Verhaltensweise. Sie ist ein in Tieren und Menschen verankertes Verhaltensmuster, zum Zwecke der Verteidigung, der Gewinnung von Ressourcen und der Bewältigung gefährlicher Situationen.

Menschen ohne Aggression gibt es nicht

Menschen sind aus vielen Gründen aggressiv. Sie sind vielleicht genetisch bedingte Psychopaten oder unter Umständen als Kind zu heiß gebadet worden, Sie haben vielleicht eine angeborene oder erlernte Neigung zur demütigenden Machtausübung, zur Kontrolle oder zur Feindseligkeit. gegebenenfalls sind sie aggressiv, weil sie in einem objektiv unerträglichen Umfeld leben oder arbeiten. Menschen zeigen aggressives Verhalten, weil sie Hunger haben, unausgeschlafen sind oder weil es zu laut ist. Aggression entsteht bei zu viel physischer oder psychischer Enge, bei nicht erfüllten Wünschen und Ansprüchen, sie ist Ausdruck bei Stress, Ärger, Wut, Groll, Hass oder Neid. Menschen fühlen sich unter bestimmten Umständen unsicher, sie erleben Ohnmacht und entwickeln zur Vermeidung dieses Gefühls ein starkes offenes oder subtiles Kontroll- und Dominanzbedürfnis, das die anderen als chronisch aggressiv wahrnehmen. Andere legen andauernde Aggressivität an den Tag, um eigene Verwundbarkeit oder Verletzung zu kompensieren, die sie erlebt haben. Das funktioniert nach der Logik, wenn ich ein Täter bin, kann ich schon mal kein mehr Opfer sein. Was du nicht willst, was man dir tut, das tue andern, das tut gut. Gern genommen ist auch, die Aggressionen als Mittel des Erhalts oder der Mehrung des eigenen sozialen Status zu verwenden bzw. es als Mittel einzusetzen, den Status von anderen zu beschädigen, herabzusetzen oder zu zerstören.

Wo die Aggression ist, ist die Gewalt nicht fern. Es gibt körperliche Aggressionen, z.B. Schlagen, Treten, Boxen. Verbale Aggressionen, wie Schimpfen, Anschreien, herablassende Blicke demütigende Aussagen oder Gesten. Indirekte Aggressionen schädigen andere Personen über Bande, z.B. durch Bestehlen, Zerstören, Verleumden. Manche Aggressionen treten offen zu Tage, manche werden mit dem Deckmantel verschleiert. Ich will doch nur dein bestes, ich will doch nur Harmonie, aber … Menschen auf dem aggressiven Dauerkriegspfad zielen immer darauf ab, den Selbstwert anderer abzuwerten, sei es durch Einschüchterung, Verunsicherung oder Lächerlich machen. Aggressionen richten sich gegen andere Menschen, Gegenstände oder gegen sich selbst.


Spielfelder der kultivierten Aggression

Die moderne Zivilisation Ausprägung trägt ihren Mitgliedern auf, Aggressionen in Leistung in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu transformieren und so auszuleben. Menschen sollen sich dort austoben und dabei wenigstens etwas halbwegs Vernünftiges für die Gesellschaft leisten.
Dabei erhält jeder Bereich einer Gesellschaft seine eigene zivilisierte Währung der Dominanz. Was im Kämpferischen, Kriegerischen der Fuß auf dem am Boden liegenden Gegner ist, ist im zivilen Feld der Ökonomie die größere Summe auf dem Konto, in der Wissenschaft die größere Zahl der Veröffentlichungen, in der Kultur die größere öffentliche Wahrnehmung, im Sport die größere Anzahl der gewonnenen Wettkämpfe, in der Politik die Mehrheit der gewonnenen Wählerstimmen, in den sozialen Medien die größere Anzahl von Likes und Followern.

Anstatt anderen eine reinzuhauen oder sie bei einem Dissens gleich zu würgen, um zu zeigen, wer die oder der Ranghöchste ist, verlagern Menschen in der Zivilisation ihren Geltungsdrang und ihr Dominanzstreben auf diese zivilen Felder der Gesellschaft. Sie strengen sich an, um sich teure Dinge zu kaufen, die sie dann herzeigen können und Bewunderung erfahren. Sie sind besonders gebildet und geben ab und zu Kostproben davon und erfahren Bewunderung. Sie schaffen Werke höchster künstlerischer Kreativität, wofür sie gefeiert werden.

Blickt man hinter die Fassaden dieser Sphären des Zivilen, tobt überall ein harter, unbarmherziger Kampf um das größte Stück des Kuchens, aber vordergründig geht es zivilisiert und friedlich zu. Ziel erreicht.
Aber diese Sublimationsstrategie hat auch einen Haken. Verschoben ist nicht aufgehoben. Die Aggression, auch wenn sie oberflächlich gezügelt und zivilisiert ist, hat eigentlich auch in diesen zivilisierten Bereichen nichts zu suchen, weil sie sich auch dort oft kontraproduktiv auswirkt. Während es in den Sphären der Kunst oder es Sports relativ ungezügelt um Missgunst, Demütigung und Egoismus geht, müssen Menschen in der Politik, Ökonomie und der Wissenschaft tatsächlich zivilisiert agieren, weil die oberflächlich kaschierten Aggressionen die Sachorientierung, das Finden von echten Lösungen, Kompromissen oder Kooperationen viel zu oft behindern und verhindern.


Kategorien von Aggressionen

Um Aggressionen angemessen zu handzuhaben oder klug auf sie reagieren zu können, muss man sie verstehen. Wenn man weiß, dass sich Kinder bei Hunger aggressiv verhalten, gibt man seinem Kind auf dem Spielplatz besser frühzeitig etwas zu essen, als zu toben oder mit einem Wortschwall zu überziehen, wenn es „grundlos“ einem anderen Kind eine Schaufel überzieht. Der Apfel erspart dann allen Beteiligten und Umstehenden viel Geschrei.

Muster zu erkennen, nimmt oft
schon die Emotion aus dem Spiel

Viele Aggressionen verlieren durch Verstehen und Nachvollziehen ihren Schrecken für die, auf die sie einprallen. Ausgefuchste Krieger des Alltags setzen Aggressionen absichtlich ein, um die andere Seite zu gewünschtem Verhalten zu drängen. Sie wissen vom Unbehagen und dem Fluchtreflex, den Aggressionen bei vielen auslösen. Sie nutzen genau das schamlos und ohne mit der Wimper zu zucken aus. Wenn eine Führungskraft, allseits bekannt zu Wutanfällen neigend, während der Frage nach Urlaub schon demonstrativ die Faust ballt und die Kieferknochen anspannt, werden sich manche zarten Gemüter die Frage beim nächsten Mal verkneifen und auf ihren Urlaub verzichten. Ob das langfristig eine kluge Personalpolitik ist, sei dahingestellt.

Das Verstehen der Muster der Entstehung und Äußerung von Aggressionen kann erheblich helfen, eigene Verhaltensweisen zu korrigieren. Um ein so komplexes Phänomen wie die Aggression greifbar zu machen und gleichzeitig anwendungsnah zu bleiben, nehme ich drei Annäherungen vor.

Annäherungsversuch 1: Konstruktive und destruktive Aggressionen

Wenn es um komplexe Sachlösungen geht, ist ein hohes Maß an Diskurskompetenz und Affektregulierung erforderlich. Wenn hier, ab und zu jemandem mal kurz der Kragen platzt, ist das nicht wünschenswert, aber einfach unvermeidlich.
Es kann sogar für den Prozess hilfreich sein, wenn jemand unter Verwendung des heiligen Zorns auf den Tisch haut, um alle kurz aus der Festgefahrenheit oder dem Komplexitätskoma herauszureißen. Ich würde nicht diktatorisch sagen, dass Aggressionen in einem kreativen, professionellen, zivilisierten Prozess oder Umfeld nichts zu suchen haben. Manchmal ist der Feind die Trägheit, die Müdigkeit, die Beharrungskraft und der darf man ruhig ab und zu die Zähne zeigen.

Was in einem konstruktiven Umfeld wenig zu suchen hat, ist die destruktive Aggression in Form von maßloser Wichtigtuerei, Vielschwätzerei, Egozentrik oder Dominanzsucht. Diese Verhaltensweisen provozieren nur Gegenaggressionen oder zerstören die Bereitschaft zu vernünftigen Entscheidungen. Menschen, die mit diesen Aggressionen konfrontiert sind, geben aktive Beteiligung auf oder emigrieren in die innere Kündigung. Aggressive Menschen wissen oft nicht, dass sie sich mit dieser Taktik insgesamt keinen Gefallen tun. Die so erzielten Vorteile oder Siege stellen sich zu oft als Pyrrhos-Siege heraus. Das gute Gefühl, das sich während der Anwendung dieser destruktiven Aggressionen in einem Soziopathen- oder Psychopathengehirn breitmacht, täuscht sie darüber hinweg, das diese Strategie mittel- und langfristig eine Verliererstrategie ist.

Annäherungsversuch 2: Die apokalyptischen Reiter der Beziehung

Der Psychologe John Gottmann kategorisiert mit seinen fünf apokalytischen Reitern die Destruktivität und Aggressivität, die darauf ausgelegt ist, das Ende der friedlichen Koexistenz und der Kooperation in einer Beziehung einzuläuten. Die fünf apokalyptischen Reiter sind die Verhaltensmuster

  • übermäßiges, destruktives Kritisieren,
  • abblocken jedweder Kritik,
  • sich dem Partner oder der Partnerin durch hochmütiges Reden oder Verhalten überlegen zeigen,
  • sich einer ernsten Kommunikation verweigern und
  • Macht demonstrieren.

Sobald mindestens eine Partei diese Reiter auf das Feld des Konflikts führt, ist es bald vorbei mit friedlich. Wer nicht aggressiv in Beziehungen sein will, muss sich ständig beobachten darauf achten, dass sich diese Taktiken nicht im eigenen Verhalten und Denken einschleichen. Wenn es dann doch passiert: Milde mit sich walten lassen, eine Geste der Entschuldigung zeigen und zu Kooperation und Dialog zurückkehren.
Wer mit Menschen zu tun hat, die diese Techniken der Herabwürdigung systematisch einsetzen und keinerlei Bemühen zu erkennen geben, dies zu unterlassen, sollte sich möglichst schnell damit abfinden, dass das Zusammenarbeiten oder -leben niemals eine friedliche, kooperative Form annehmen wird. Es ist objektiv Zeitverschwendung und autoaggressive Selbsttäuschung, auf Besserung, Einsicht oder Umkehr zu hoffen. Hier hilft nur zu gehen.

Annäherungsversuch 3: Aggressionen aus der Sicht der Selbstverteidigung

Aus der Sicht der physischen und psychischen Selbstverteidigung sehe ich vier Typen von Aggressionen und dazu passende Reaktionsmuster. Diese Strategien gelten universell in den Situationen der Selbstverteidigung, im Arbeits- und Führungsalltag oder im Privaten.

Es gibt erstens Aggressionen, die ich nicht zur Kenntnis nehmen muss. Es ist nicht erforderlich, auf jedes Kläffen einzugehen. Wenn sich jemand, mit dem ich in keiner Beziehung von Belang stehe, aufplustert, mich schwach anredet, mich öffentlich abwertend behandelt, kann ich einfach ausweichen und Energie sparen. Was juckt es die Eiche, wenn die Sau sich an ihr reibt.

Es gibt zweitens Aggressionen, die ich aushalten muss. Je exponierter meine Position ist, umso mehr Personen finden sich, die allein meine Stellung zum Anlass nehmen, sich gegen mich zu richten und an meinem Status zu kratzen. Wenn ich in der Öffentlichkeit stehe, habe ich automatisch Feinde, die jede meiner Schwächen sofort auszunutzen suchen. Ich werde beleidigt, nicht selten bedroht, und wenn es eine bestimmte Grenze nicht überschreitet, muss ich das hinnehmen. Die Privilegien von Macht und Einfluss bringen diese Aggressionen mit sich und ich darf nicht zu dünnhäutig sein oder werden. Wenn ich eine exponierte Stellung habe, muss ich damit leben, dass andere meinen Platz einnehmen wollen. Das hält mich frisch und wachsam und das System leistungsfähig.

Wer Kritik übel nimmt,
hat etwas zu verbergen

Meisterschaft braucht Kritik. Und den seriösen Kritikern muss ich zuhören, ob es mir passt oder nicht, ob es mir leichtfällt oder nicht. Und dann gibt es die vielen Nervensägen aus der zweiten und dritten Reihe, die noch nie etwas zustande gebracht haben, aber jede Gelegenheit nutzen, anderen genüsslich ihre Fehler aufzuzeigen. Diesen Menschen muss ich nicht zuhören oder lesen, was sie schreiben. Wenn sie reden, einfach an was anderes denken oder weggehen, aber ihren Aggression auf keinen Fall auf den Leim gehen. Menschen in exponierten Positionen, die zu dünnhäutig oder aggressiv auf Kritik reagieren, beschädigen sich damit selbst. Mehr, als es jeder Kritiker vermag.

Es gibt drittens Aggressionen, auf die ich eingehen muss. Ich muss diese Aggressionen etwas entgegensetzen oder sie beherzt herunterdimmen. Wenn jemand an meinem Status kratzt, mir offen feindselig begegnet, mich öffentlichkeitswirksam beleidigt, obwohl ich aufgrund eines Vertrages, einer Übereinkunft oder einer aus sonstigen Gründen gebotenen Friedlichkeitsverpflichtung respektvolles Verhalten erwarten darf, bin ich aufgefordert zu reagieren, um der Respektlosigkeit und meinem Autoritätsverlust nicht alle Türen zu öffnen. Erleichtern wirkt dabei die Sichtweise, dass diese Art von Angriffen meistens nicht gegen mich persönlich ich gerichtet ist, sondern gegen die Position, die ich einnehme.

Was ich zulässt drängt nach.
Je länger ich warte,
umso härter muss ich später agieren.

In Konflikten gibt es Situationen, in denen ich andere von ihrem gesteigerten Aggressionsniveau runterzuholen muss. Selten geschieht das durch fortgesetzte Freundlichkeit, wahrscheinlicher durch steigerungsfähige Konfrontation oder Drohung. Aggressive Menschen betrachten in der Regel das Ausbleiben von Gegenwehr als Einladung zu gesteigerter Aggression. Wenn ich den rechten Zeitpunkt der maßvollen Konfrontation verpasst habe, bin ich meistens zu einem späteren Zeitpunkt zu viel dramatischeren Maßnahmen gezwungen. Die Hoffnung, dass alles schon gutgehen wird, ist angesichts bewusst aggressiver und feindseliger Menschen nicht friedfertig und deeskalativ, sondern naiv bis fahrlässig. Wenn ich angesichts bewusst feindseligen Verhaltens zu lange auf Beschwichtigung setze, trage ich letztlich eine Teilschuld an der späteren Eskalation.
Ich kann Versuche der Diskreditierung grundsätzlich nicht kommentarlos stehen lassen, andererseits gibt es auch Situationen, in denen es klüger ist, auf diese Aggressionen trotzdem nicht oder nicht sofort einzugehen. Manchmal muss man nur warten, bis sich Gegner selbst aus dem Rennen nehmen. Ein chinesisches Sprichwort gibt den Rat: Wenn du lange genug am Fluß sitzt, siehst du irgendwann die Leiche deines Feindes vorbeischwimmen.
Die beste Form der Prävention vor aggressivem, böswilligem Verhalten ist und bleibt die Abschreckung. Abschreckung hat selten zur Folge, dass das Gegenüber zu Friedfertigkeit erzogen wird. Er oder sie suchen sich nur ein anderes Opfer und lassen mich in Ruhe. Mehr kann ich in der Regel leider erreichen.

Manchmal ist die Zeit,
den Befehlshabern (wmd) der
apokalyptischen Reiter
den Krieg zu erklären

Es gibt dann noch viertens Aggressionen, die ich rigoros unterbinden muss, weil sie eine Grenze überschreiten, die nicht überschritten werden darf. Es sind körperliche Angriffe, die meine Unversehrtheit oder die anderer mir Schutzbefohlener gefährden. Es besteht, wenngleich eine sehr geringe, Wahrscheinlichkeit, dass ich Ziel einer physischen Attacke werde. Wenn es passiert, ist jede Zurückhaltung fehl am Platze. Ich muss alles in die Waagschale werfen, hier gibt es nur Sieg oder Niederlage. Hier muss ich mich durch massive Gegengewalt schützen.

In der Arbeitswelt gibt es so gut wie keine körperlichen Angriffe, hier sind die Entsprechungen die Auswüchse der Psycho- und Soziopathie, gegen die ich kaltblütig und schonungslos vorzugehen habe. Wenn ich Kraft meiner Position die Verantwortung für die Gruppe oder Organisation habe, muss ich hier ran und kann nicht davonlaufen. Es sind z.B. die Aggressionen der amtlichen Soziopathen, denen man keinen Zentimeter Raum geben darf, die man bekämpfen muss und sie mit aller Konsequenz verbannen muss. Es sind die Aggressionen, die mich und andere Menschen ohne sachlichen Grund, aus bloßer Gemeinheit, Hinterhältigkeit oder Boshaftigkeit ernsthaft beschädigen wollen und auch immer das Potenzial haben, es zu schaffen. Das sind Aggressionen der Menschen, die sich außerhalb jeglicher Regeln stellen und die nur ein Prinzip kennen: mir das meiste und euch nichts. Menschen, die nur einen Beweggrund haben: ihr Ego aufzupolieren und sich zu Lasten anderer zu bereichern.

Wenn diese Aggressionen mich nicht selbst betreffen, muss ich alle meine Macht und Stärke nutzen, mich schützend vor andere zu stellen und alles daransetzen, die Aggressoren zu verjagen. Es wird die chronischen Soziopathen oder destruktiven Nervensägen nicht ändern, ist auch völlig egal, sie sollen ihr Unwesen, wie schon erwähnt, einfach woanders treiben.
Wer Verantwortung für eine Gruppe von Menschen hat, muss Menschen entfernen, die sich nicht unter Kontrolle haben und durch ihr überzogenes Ego oder unverbesserliche Destruktivität die Sicherheit in der Gruppe und deren Ziele gefährden.


Übung macht die Meisterin, Übung macht den Meister

Menschen in exponierten, leitenden Stellungen haben auf ihr Umfeld erheblichen Einfluss. Ihr Umgang mit den eigenen Aggressionen und ihr Umgang mit den Aggressionen anderer ist maßgeblich prägend auf das die Familien, auf eine Gruppe, auf eine Organisation. Betrachtet man das Verhalten einzelner Personen, lassen dadurch sich immer Rückschlüsse auf den Umgang mit Aggressionen durch die Ranghöchsten ziehen. Der Fisch stinkt vom Kopf her. Der Umgang mit Aggressionen ist so entscheidend, dass exponierte Personen es nicht guten Gewissens der Tagesform, den Gewohnheiten oder den emotionalen Präferenzen überlassen können, welche Taktiken und Strategien sie in Bezug auf Aggressionen anwenden.

Das Wissen um Aggressionen, Extremsituationen, Konflikte und Kämpfen ist ein wichtiger Baustein, aber es reicht noch nicht, um zu MeisterInnen des Konflikts verzaubert zu werden. Es reicht auch nicht, das Lernen dem Zufall zu überlassen. Die verschiedenen Situationen kommen zu unsystematisch und zu unregelmäßig vor, als dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis man alle Formen beherrscht und die richtigen Zeitpunkte erkennt. Wenn Feuerwehrleute die verschiedenen Situationen des Helfens und der Gefahrenabwehr immer nur in der Echtsituationen üben würden, hätten wir bald nur noch tote Feuerwehrleute oder deutlich mehr nicht gerettete Unfallopfer. Wenn Polizeikräfte, das angemessene Verhalten immer nur in einer echten Einsatzsituation üben würden, würden wir uns bedanken. Unschöne Vorstellung, was passierte, wenn unsere Polizei Terrorbekämpfung, Schießen und Verfolgungsjagden immer nur in Echtsituationen üben würde.

Wodurch als durch Üben
soll Können auch kommen?

Die Abwehrtechniken gegen Aggressionen, Kampfansagen, Psychospielchen ohne Übung, immer nur intuitiv ohne vorheriges Training anzuwenden, ist kein Zeichen von verantwortlichem Agieren. Können setzt nur durch systematisches Training ein. Von ab und zu, kann niemand echte Weiterentwicklung erwarten und Intuition ist nur etwas für ausgebildete Könner.

Bei Feuerwehr und Polizei ist das Risiko unterlassenen Trainings plausibel einsehbar. Und bei Führungskräften oder Hochleistungsmenschen? Die ersteren setzten durch unterlassene Übung in ihrer Kernaufgabe, nämlich Konfliktmanagement, den Erfolg der ihnen anvertrauten Organisation und Menschen aufs Spiel, die zweiteren setzen durch zu wildes, erratisches Agieren angesichts eigener und fremder Aggressionen nicht selten in kurzen Momenten die gesamten Früchte ihres Könnens, ihre Reputation, ihr Lebenswerk aufs Spiel.
Alle Menschen benötigen für ein gutes Leben einen geordneten Umgang mit Aggressionen. Für Menschen in exponierten Positionen gehört der geordnete Umgang mit Aggressionen zum elementaren Rüstzeug, ohne das sich niemand ins Rampenlicht begeben sollte. Die Weicheier zerbrechen irgendwann daran, die Rüpel auch, nur etwas später.


Schütze das Gleichgewicht

Wie kann man den Umgang mit Aggressionen üben? Kampfkünste wie Ringen, Karate, Judo, JiuJitsu, Aikido basieren auf dem Prinzip, selbst das Gleichgewicht zu bewahren und zu verteidigen und den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Den Gegner durch Drehungen, Hebel, Gewichtsverlagerungen aus dem Gleichgewicht zu bringen, hat den Vorteil, anschließend nur wenig Kraft aufbringen zu müssen, einen Gegner handlungsunfähig zu machen.
Aggressionen gegen andere haben immer einer Absicht: sie sollen den anderen aus dem Gleichgewicht bringen. Aus diesem Grund nimmt die Selbstkontrolle angesichts von Aggressionen in der Ausbildung in Kampfkünsten einen sehr wichtigen Raum ein. Sie ist so wichtig, damit Reaktionen durchdacht und zielorientiert ausfallen und man nicht in den Strudel der Aggression hingezogen wird.

Aggressionsbewältigung
in den Kampfkünsten
ist eine Miniatur der
Aggressionsbewältigung
in der Realität

Der geordnete Umgang mit Aggressionen für die echte Welt lässt sich gut über den Umweg einer Übungswelt in einem Schonraums trainieren. Ein Schonraum ist eine Sphäre, in der Unsicherheiten und Fehler egal sind, in dem man Schwäche zeigen kann, ohne dass diese gleich von jemanden ausgenutzt wird. Dort kann man ausprobieren, sich langsam gewöhnen und sich den Ursachen und Folgen von Aggressionen stellen. Das Training einer Kampfkunst ist so ein Schonraum.

Die Übertragbarkeit der Erfahrungen aus dem Üben einer Kampfkunst in den Alltag des Konflikts funktioniert recht gut: die Wirkung des Griffs an den Kehlkopf durch einen Gegner kommt z.B. dem unvermittelten Versuch der Bloßstellung oder des Lächerlich Machens in einer Besprechung oder einem Interview sehr nahe. Wer lernt, bei dem Kehlkopfgriff nicht in Schockstarre zu verfallen und sich durch einfache Aktionen, Zeit für eine Reaktion zu verschaffen, dem wird dieses Reaktionsmuster, wenn es durch unermüdliche Wiederholung und Desensibilisierung verankert ist, auch im Besprechungsraum oder vor der Kamera helfen. Alle Muster der Wehrhaftigkeit, des Durchsetzens, des Deeskalierens etc. lassen sich im Feld der Kampfkunst einüben und dann mit Beobachtung und systematischer Reflexion ins echte Leben übertragen.


Kampfkunst hilft

Der einen Hälfte von uns fällt oft gar nicht auf, dass sie zu aggressiv und zu dominant ist. Sie hält sich für umgänglich und klar und im besten Sinne für zielstrebig und bekommt gar nicht mit, dass sie eine Schneise der emotionalen Verwüstung hinter sich herzieht. Sie hat ihrer positiven Aggressivität viel zu verdanken, erkennt aber nicht, dass ihre überschießende Aggressivität für viel zu viele Niederlagen verantwortlich war und ist.
Der anderen Hälfte von uns fällt oft gar nicht auf, dass sie zwar durchaus feinfühlig, aber objektiv zu schwach agiert oder reagiert. Sie ahnt oft noch nicht mal, dass sie sich durch Ihre wirren Denkweisen der Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit permanent selbst in Situationen der Gewalt und Aggression bringt.

Die zu Harten dürfen lernen, ihre Aggression an der Schwelle vom Konstruktiven zum Destruktiven zu stoppen. Die zu Weichen haben den Weg der Desensibilisierung vor sich. Beim Training von Polizeipferden wird diese Desensibilisierung systematisch so lange ausgeführt, bis jeder Reflex der Flucht, des panischen um sich Tretens abtrainiert ist. Egal was von außen einwirkt, sie bleiben ruhig.

Die Weichen
müssen das Harte lernen,
die Harten das Weiche

Die einen erfahren, dass z.B. übertriebene Härte beim Kämpfen nur schwach macht und man sich damit in blöde Situationen bringt. Sie begreifen, dass sie besser auf das Gegenüber eingehen, anstatt stumpf ihr Ding durchzuziehen. Die anderen erfahren, dass sie Angreifern entgegen einer tiefen Überzeugung nicht schutzlos ausgeliefert sind, sondern dass es Wege gibt, selbst gegen körperlich überlegene Gegner zu behaupten.
Es ist für alle wichtig, die Fähigkeit ins Repertoire aufzunehmen, durch einen Schritt zur Seite eine Situation zu entschärfen, aber dem aggressiven Gegner dadurch unmissverständlich klarzumachen, dass er oder sie an den oder die falsche geraten ist und jetzt besser aufhört.

Konkret übt man die Selbstverteidigung gegen Aggressionen im Karate und im zivilisierten Alltag in diesen Schritten: Gewöhnen an den engen Kontakt, verlieren des Unbehagens, wenn jemand zu nahe kommt. Schockstarre bei Angriffen eliminieren, Methoden des Ausweichens üben, den Konter trainieren, dann die Methoden und Haltungen der deeskalierenden Abschreckung verinnerlichen.
Damit das Training nicht zu Selbstüberschätzung führt oder bloße esoterische Traumtänzerei ist, muss man akzeptieren, dass die angemessenen Reaktionen in der Selbstverteidigung oder in den aggressiven, testosteronhaltigen oder zickigen Situationen des Arbeitsalltags nur gelingen können, wenn sie immer und immer wieder geübt werden.


Ventil?

Wer einer Berufung nachgeht, bei der es besonders auf Affektregulierung, Dialogfähigkeit, Gelassenheit oder Geduld ankommt, braucht ab und zu ein Ventil, durch das der Druck der aufgestauten Energie oder Aggression entweichen kann. Wenn es hilft, Frust, Anspannung, Energie über Austoben loszuwerden, spricht nichts dagegen, dies zu tun. Aber es ist nicht ratsam, ausschließlich Ventile für den Druckabbau zu gebrauchen. In gleichem Maße muss Zeit und Energie darauf verwenden werden, dass sich übergroßer Druck erst gar nicht aufbaut oder aufstaut.

Kampfkunst ist kein geeignetes
Ventil für den Aggressionsabbau

Kampfkünste sind grundsätzlich kein geeignetes Ventil für den Aggressionsabbau. Dazu sind sie technisch zu anspruchsvoll, als dass man mit roher Gewalt viel erreicht. Zudem ist das Wesen der Kampfkünste kluges, systematisches und vertrauensvolles Üben – wer sich hier nicht im Griff hat, gefährdet seine Übungspartner und sich selbst – und ganz schnell, will keiner mehr mit ihm oder ihr üben. Auch ich nicht.
Wer ständig ein Übermaß an Aggression in sich trägt und den Weg der Ursachenforschung zu anstrengend oder zu esoterisch empfindet, findet in wettkampforientierten und kontaktbasierten Sportarten eine gute Heimat. Hier findet das Überdruckventil und die Wandlung von Wut in Erfolg gute Gesellschaft – in der Kampfkunst sind diese Dinge fehl am Platz.


Hey Wolf …

Eines Abends erzählte ein alter Cherokee-Indianer seinen Enkeltöchtern und Enkelsöhnen am Lagerfeuer von einem Kampf, der in jedem Menschen tobt. Er sagte: „der Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten, die in jedem von uns wohnen.
Einer ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorgen, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego.
Der andere ist gut. Er ist die Freude, der Friede, die Liebe, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube.“
Die Kinder dachten einige Zeit über die Worte seines Großvaters nach, und fragten dann: „Welcher der beiden Wölfe gewinnt?“ Der alte Cherokee antwortete: „Der, den du fütterst.“

© Mathias Raths


Vertiefen

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John Gottman behauptet eine Methode entwickelt zu haben, mit der mit 90 % Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden kann, welche neu verheirateten Paare verheiratet bleiben und welche nach 4 bis 6 Jahren geschieden sein werden.
Ich bin Pragmatiker: mir sind die Vorhersagemodelle egal, die Kategorisierung der Aggression in die apokalyptischen Reiter und deren Verwendbarkeit im Unternehmensalltag finde ich sehr brauchbar

Aggression | Wikipedia | zum Eintrag


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